12.05.2025

Massenentlassung - Kündigung ohne Anzeige?

BAG, Vorlagebeschluss vom 01.02.24 - 2 AS 22/23

Kündigt ein Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen eine bestimme Anzahl von Arbeitnehmern, besteht gemäß § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) die Pflicht zur Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit. Der jeweilige Schwellenwert ist abhängig von der Größe des Unternehmens. Durch die Anzeige soll die Agentur für Arbeit die Belastung des Arbeitsmarktes durch eine große Anzahl an Arbeitslosen auffangen und reduzieren. Mit einer ordnungsgemäßen Anzeige kann die Agentur für Arbeit Maßnahmen vorbereiten und durchführen, um auf die geplante Entlassungswelle reagieren zu können.

Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen führen nach bisheriger Rechtsprechung in Deutschland regelmäßig zur Nichtigkeit der ausgesprochenen Kündigungen. Dies hat in der Praxis massive Auswirkungen, insbesondere für Arbeitgeber, die ohne vollständige oder korrekte Massenentlassungsanzeige agieren. Nun hat der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) am 1. Februar 2024 in einem Vorlagebeschluss (Az. 2 AS 22/23 (A)) angedeutet, von dieser strikten Linie abweichen zu wollen – und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zentrale Fragen zur unionsrechtlichen Bewertung vorgelegt.

Nach § 17 KSchG ist bei Massenentlassungen eine Anzeige bei der Agentur für Arbeit zwingend erforderlich. Erfolgt diese nicht ordnungsgemäß, ist eine daraufhin ausgesprochene Kündigung gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nichtig – so bislang die ständige Rechtsprechung des BAG. Diese Nichtigkeit hat den Zweck, die Schutzfunktion der Massenentlassungsanzeige durchzusetzen und die erwähnte Vermittlungsarbeit der Agentur für Arbeit zu ermöglichen.

Im vorliegenden Fall hatte ein Arbeitgeber ohne vorherige Anzeige das Arbeitsverhältnis ordentlich gekündigt. Die Anzeige wurde auch nachträglich nicht nachgeholt. Während der für den Fall zuständige 6. Senat des BAG die Kündigung für wirksam halten wollte, sah sich dieser wegen der abweichenden Auffassung des 2. Senats daran gehindert. Der 2. Senat hingegen hält eine differenzierte Betrachtung für geboten und leitete ein Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV ein.

Das BAG ersucht den EuGH um Klärung, ob eine Kündigung auch dann unionsrechtskonform nichtig sein kann, wenn eine Massenentlassungsanzeige unterblieben ist. Dabei unterscheidet der 2. Senat zwischen:

  • einer fehlerhaften bzw. unvollständigen Anzeige und
  • einer vollständig unterlassenen Anzeige.

 

Nur im letzteren Fall – so die Auffassung des 2. Senats – könne die Kündigung erst wirksam werden, wenn die Anzeige nachträglich erstattet wurde und die Agentur für Arbeit die gesetzlich vorgesehene Prüf- und Vermittlungsfrist (§ 18 KSchG) einhalten konnte. Damit solle vermieden werden, dass Kündigungen ohne Kenntnis der Agentur für Arbeit erfolgen und betroffene Arbeitnehmer ohne staatliche Unterstützungsmaßnahmen bleiben.

Bedeutung für die Praxis

Sollte der EuGH der Linie des 2. Senats folgen, könnte sich die bisherige harte Sanktion der Nichtigkeit bei bloß fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen entschärfen. Dies würde die Handlungsspielräume von Arbeitgebern deutlich erweitern und Unsicherheiten im Kündigungsschutzprozess verringern. Dennoch bleibt im Fall einer gänzlich unterlassenen Anzeige der Schutz der Arbeitnehmer durch Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Entlassungssperre bestehen.

Diese Entwicklung zeigt, wie dynamisch das Arbeitsrecht an der Schnittstelle von nationalem und europäischem Recht ist. Die Entscheidung des EuGH wird mit Spannung erwartet und dürfte grundlegende Auswirkungen auf künftige Kündigungsschutzverfahren haben.

Arbeitgeber sollten weiterhin größte Sorgfalt auf die Erstellung der Massenentlassungsanzeige verwenden – schon allein, um unnötige Gerichtsprozesse zu vermeiden. Gleichzeitig eröffnet der Vorlagebeschluss Raum für eine praxisnähere und verhältnismäßige Anwendung der Sanktionen im Fall formaler Fehler.

Sie haben Fragen zu Massenentlassungen oder benötigen rechtliche Begleitung bei Kündigungen? Als Fachanwalt für Arbeitsrecht steht Ihnen Rechtsanwalt Freier gern zur Verfügung.

 
Rechtsanwalt Freier | Photos by www.steur.de | Design und Webservice by bense.com | Impressum | Datenschutzerklärung | Sitemap | Suche